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Peter Sloterdijik – Das Zeug zur Macht

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Es besteht bei fast allen, die über das Wesen der Modernität nachgedacht haben, ein mehr oder weniger aus­drücklicher Konsensus darüber, daß das Weltalter, in dem wir leben, ein riesiges Experiment der primären technologie­fähigen Nationen über das Motiv der grenzenlosen Steigerung von Macht und der immerwährenden Intensivierung des Lebens darstellt. In diesem Weltexperiment entdecken sich die modernen Subjekte – fortschreitend von Generation zu Genera­tion – als Träger eines spezifischen Willens zur Macht. Es ist freilich durchaus nicht wahr, daß mit Männern vom Schla­ge eines Kolumbus oder eines Descartes, eines Cosimo oder eines Bacon mit einem Mal ein neues fer­tiges Ge­schlecht von theoreti­schen und praktischen Macht­menschen auf den Plan ge­treten sei, die nun nach einem ge­walttätigen Meisterplan ein von vorne­herein intendiertes Imperium des Könnens ohne Grenzen aufgerichtet hätten. Die genannten Namen stehen als personale Symbole für einen transperso­nalen Wirbel, in dem sich das epochale Experiment der fortgehenden Macht- und Könnens­steigerungen aufschaukelt. Nicht einzelne Individuen sind Initiatoren und erste Ur­sachen des großen neuzeitlichen Aus­griffs in die Seinsweise der neuen Kompetenzen, sondern eine autonome, durch aktive Subjekte hindurchgreifende Kompetenz­steigerungsspirale ist es, die sich mit den schöpferischen Geistern der frühen Moderne zu dre­hen beginnt, indem sie den Erfin­dungs­willen und die Initiati­vi­tät jener Männer rekrutiert. Die großen Namen aus der Früh­zeit der europäi­schen Ermächtigungs­geschichte sind ge­wis­sermaßen die Namen von experimentellen Aposteln – sie be­zeichnen Individuen, die als die Erst­berufenen einer neuen globalen europäischen Mission gelten können; sie waren die Träger eines ursprünglichen Apos­to­lats der Wissens­macht, das sich mit der Unwiderstehlichkeit einer sieg­rei­chen Religion fortpflanzte, immer neue Beru­fungen hervor­bringend und zu immer neuen Sukzessionen inspirierend. Die Macht- und Kompetenzerwei­te­rungsspirale der europäischen Neuzeit läßt sich als eine Art Fortsetzungs­spiel beschreiben, in dem je­weils neue Genera­tionen – vom Könnensniveau der älteren aus­ge­hend – ihr ei­gentümliches Kapitel in den epochalen Stei­ge­rungs­roman einfügten. Vor dem Drama sind alle Akteure gleich, und vor dem Ruf zur Macht verschwinden zu Beginn der Neuzeit die ständischen Dif­fe­renzen; Kaiser und Bürger sind gleich­zeitig Medien der autonomen Machtspirale, – Fürsten hören wie Ingenieure den Ruf der neuen Könnens-Horizonte. Plus ultra lautete das Motto des habsburgi­schen Kaisers Karl V., und auf den Welt­meeren des frühen 16. Jahrhunderts kreuzten die spa­ni­schen Flotten unter diesem Zeichen, von dem man behaupten darf, es sei das maßgebliche Europäerwort der Neuzeit. Nur wer dem inneren modus operandi seines Lebens nach an diesem Immer-Weiter Anteil hat, ist im präzisen Sinn des Wortes ein moderner Europäer. Erst nach der Einnistung des Steigerungsmotivs in den Pilot-Individuen der Neuzeitspirale wird Subjektivität modernen Typs im ei­gent­lichen Sinne möglich und wirklich. Im Willen zum Immer-Weiter sind Zwang und Spontaneität un­trenn­bar ineinander verschmolzen, sodaß sich nie mehr sagen läßt, ob die Spi­rale ihre Dynamik eher aus Könnenwollen oder Könnenmüssen zieht – gewiß ist nur, daß ihre Schwungmasse zuletzt immer subjektiver, also kompetenzhafter wird, sodaß sich Können­wollen in Wollen­können und Könnenmüssen in Müssen­können verwandelt. So wird, mit anderen Worten, jedes­mal das Kom­petenzmoment führend, und das Subjekt kristal­lisiert sich fortschreitend heraus als eines, das sein Han­deln, sein Wissen, sein Begehren, sein Wollen auf einem subjektiven Kapitalstock von Kompetenzen gründet. Es ist dies alles nur eine andere Art zu sagen, daß moderne Subjekte diskrete Medien von Macht sind; die modernisierte Macht ist aber mehr als ein träger Schatz; sie ruht nicht nur auf einem Bestand aus einfacher Macht, sondern entwickelt sich als Macht mit einem Steigerungsindex, als Er­mäch­ti­gungsmacht – wenn man so will. Wer auf moderne Weise etwas kann, der kann es so, daß ein Zuwachs an Können samt einem Willen zum Mehrkönnen a priori schon mitgemeint und mitgekonnt wird.

Ich möchte diese Andeutungen über die Dynami­sierung von Macht und Kompetenz für die Charakter­bestimmung des gegen­wärtigen Zeitalters nutzen. Ein in der westlichen Welt weitverbreitetes Sprach­spiel legt uns die Meinung in den Mund, wir lebten in einer postmodernen Zeit. Darunter ist entweder eine epigonale Position gegen­über der heroi­schen und avantgardistischen Modernität, vor allem in den Künsten, zu verstehen, oder eine ernüch­ter­te Posi­tion ge­genüber ex­altierten Vorstellungen von Ge­schichts­planung und Natur­be­herrschung. Wenn die Moderne ein Kompo­situm aus Genialität und Konstruktivismus war, so wäre die Postmoderne eines aus Mediokrität und Chaosmanagement. Ich möchte dem­gegenüber zei­­gen, daß solche Entgegensetzungen sich unter kompe­tenz­geschicht­lichen Gesichtspunkten nicht halten las­sen. Denn über die beiden Positionen hinweg, und durch sie hindurch, zieht sich die unaufgehaltene Bewegung der Macht­steige­rungsspirale; ja man kann sogar der Meinung sein, daß die sogenannte Postmoderne nur eine weitere Land­marke in der seit Jahrhunderten akkumulierenden Ermächti­gungsdynamik festsetzt. Was sie auszeichnet, ist die soziale Ver­massung der vor­maligen Avant­gardequa­li­täten und die Über­setzung von einst patheti­scher Kreativität in all­tägliche Mani­pu­lation von Materia­lien und Zeichen durch die Angehörigen einer weltumspannenden Design-Zivili­sation, sprich durch die übernationalen neuen smarten Mit­tel­schichten. In dieser Sicht sind Moderne und Postmoderne durch ein über­wältigendes Kontinuum verbunden. Ohne Zwei­fel ist auch die Postmoderne nur eine Phase in der Ge­schichte des euro-amerikanischen Plus-Ultra. Sie hat keine Entspannung vom Zwang zur Macht mit sich gebracht, allen­falls hat sie das Könnenmüssen dem neuesten Stand der Tech­nologie angepaßt und ein wenig Spiel in den zeitgenös­si­schen Kompetenzstil ein­geführt. Es gibt keine Anzeichen für einen wirklichen Epochenbruch im Sinne eines Abbruchs der Kompetenz-Eskala­tion. Solange nicht eine höhere Gewalt die Spirale der Könnenssteigerungen sprengt, bleibt ihre Aufschraubung als kinetisches Herzstück der Modernität unge­bremst in Fahrt. Auch was ihr widerstehen möchte, scheint zu ihrem Auftrieb beizutragen; wer sie be­kämpft, treibt sie voran. Was auf die Modernität folgen wird, kann darum nur ein weiteres höheres Moderni­tätsniveau sein. Unser Zeitalter hat, solange der Weltlauf dieser seiner Eigen­dy­na­mik überlassen bleibt, nichts vor sich außer der Fortschrei­bung und Stei­gerung seiner selbst ins Unab­sehbare und doch prinzipiell Immergleiche – bis hin zu Grenzwerten, von denen man gleichwohl annimmt, auch sie ließen sich überspielen und immer weiter hinausrücken. Die Modernität ist somit die Endzeit ihrer selbst, und sie kann wesenhaft für sich selbst nichts anderes als ihre eigene Zukunftsquelle sein, sofern sie die Drehung der Kompetenz­spirale bleibt. In diesem Sinn muß man sie als ein dyna­misches Millenium verstehen. Wer auch immer sein Leben als genuiner Teilnehmer am Weltexpe­riment der Neuzeit voll­zieht, muß sich Rechen­schaft ablegen über seine spontane Be­tei­li­gung an einer mille­narischen Operation. Für diese gilt seit dem europäischen 16. Jahrhundert die noch immer unüber­wind­liche imperiale De­vise. Gleich ob wir in Kolumbus oder Karl V., in den Ingenieuren der Renais­sance oder den Utopikern des Barock die ur­sprüng­lichen Apostel des neuzeitlichen Kompe­tenz-Evan­ge­liums sehen: wir stehen noch immer mit jeder aktuellen Le­bens­äuße­rung in ihrer Sukzes­sion. Ob wir Jahr­hunderte rückwärts schauen oder die Gegen­wart in die Zukunft weiterdenken – wir sind zunächst und zu­meist Agenten und Medien für ein Tau­send­jähriges Reich der Kompetenz.

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Dieses unruhige Reich ist, soviel wir wissen, kein bequemer Ort. In der agitierten Endzeit ohne Ende wird dem Leben der ein­zelnen eine neuartige wettlaufartige Leistungsverfassung aufge­prägt; diese erzwingt die Ent­wick­lung des Individuums zu einer adaptionsbereiten Biomaschine. Als Könner oder In­haber von Kompe­tenz muß das ein­zelne Subjekt zu einem Träger von abstrakter Leistungsbe­reitschaft und konkreter Lei­stungs­­fähigkeit wer­den. Sein sozialer Stolz und seine pri­va­te Würde begründen sich aus dem Bewußtsein seiner Beitrags­fähigkeit zu einer Totalität von steigenden Leistungen. Der Einzelne im Kompetenz-Uni­versum muß sich selber als relati­ver Souverän in seiner Wirkungssphäre verste­hen. Eben da­durch gerät der moderne Einzelne in eine Falle, aus der es kein Entrinnen – zumindest kein direktes – gibt. Die Falle klafft unweiger­lich dadurch auf, daß das leistungsstolze Subjekt des Kom­petenzsteigerungs­zeit­alters im Gesamtwirbel der Kompetenz­spirale nur eine immer kleinere, immer weiter relativierte und spezialisierte Position einnehmen kann. Der moderne Könner kann immer weniger immer besser. Was einerseits ge­rechter Grund seines existentiellen Stolzes ist, – die aufgeweckte Mobilisierung von Wollen und Können in offenen Horizonten, wird zu­gleich zum Grund einer funda­men­talen und unausweich­lichen Demütigung. Die Kompetenzmasse der experi­mentell mobili­sier­ten Welt im ganzen wächst exponentiell im Ver­hältnis zu den Lernfortschritten der ein­zelnen Könnens­trä­ger. Je mehr Kom­petenz der einzelne er­wirbt, umso gewisser ist er Mit­spie­ler in einem Gesamtspiel, in dem sein Kompe­tenzradius – so groß er sein mag – nichtig er­scheinen muß. Dieses Para­dox der zugleich steigenden und sinkenden Individual­kom­petenz bildet den Hintergrund, vor dem sich das System des neu­zeitlichen Individualismus ent­wickelt. Die individua­li­stische Zivilisation steht vor der paradoxen Aufgabe, die Fähig­keiten und Ansprüche der Einzel­nen so auf­zuwirbeln, daß die ambitio­niert aufgestachelten kompetenten Ein­zelnen nicht in vernichtende Depressionen fallen durch die unver­meidliche Entdeckung ihrer jetzt erst sicht­bar werdenden unermeßlichen Inkompe­tenz in allem übrigen. Individualismus schafft das psychosoziale Reiz­klima, das die Souveränität der einzelnen zu­gleich pro-voziert und annulliert. Genau mit der dramati­schen Ent­fal­tung dieser Verlegenheit findet das Prinzip Design seinen Ort im System. Denn Design ist – von einem kompetenz­ökologischen Ansatz her gesehen – nichts anderes als die gekonnte Ab­wicklung des Nichtgekonnten. Es sichert die Kompetenz­grenzen der ein­zelnen, indem es dem Subjekt Verfah­ren und Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navi­gie­ren. Insofern darf man De­sign als Souverä­ni­täts-Simulation definieren: Design ist, wenn man trotzdem kann.

Ich denke, es lohnt sich, diesem Sachverhalt ein wenig wei­­ter auf den Grund zu gehen. Dieser liegt, wie man sich nach dem Gesagten vorstellen kann, keineswegs in un­mittel­barer Nähe zum manifesten Thema. So wie Martin Hei­degger in einem bekannten Diktum darauf insistierte, daß das Wesen der Technik selbst nichts Technisches sei, so muß man im Blick auf unser Sujet deutlich machen, daß das Wesen des Designs selbst nichts Designartiges ist. Ich habe soeben Design als Können des Nichtkönnens definiert, und möchte nun die­se Formel mit ei­nigen anthropologischen Überlegungen unter­bau­en. Die Wurzeln des gekonnten Nicht-Könnens reichen na­tür­lich weit vor die moderne Kompetenzwelt zurück, ja sie durch­­ziehen das gesamte Feld der menschlichen Urgeschichte und der Frühkultu­ren; in denen driftet der homo sapiens als Werkzeugmacher und Mythen­er­zäh­ler in Horden und Stämmen durch eine noch weithin technisch unbewältigte und analy­tisch undurch­drun­gene Naturwirklich­keit. Für ihn ist das Nichtkönnen, – das Nichtviel­machenkönnen, Nicht­vielver­ändernkönnen in Bezug auf seine Umwelt – zumindest ver­glichen mit dem Machtradius der Spätkultur – gleichsam seine erste Natur. Nichtsdestowe­niger sind die frühen Men­schen alles andere als hilflose angst­überschwemmte Opfer einer übermächtigen Außenwelt. Sie sind im Gegenteil leb­hafte, erfinderische, hochbewegliche Akteure eines Über­lebensspiels, das sie mit großem Erfolg be­treiben, auch wenn sie vom Kompetenzhorizont eines mittel­mäßigen modernen Individuums nur wie von einem Dasein in göttlichen Vollmach­ten hätten träumen können. Wenn ihre Le­bensformen aus heutiger Sicht als schiere Ohnmachtskulturen erscheinen, so haben wir es mit einer optischen Täuschung zu tun. In Wahrheit sind moderne Subjekte wegen der breiten Entfaltung ihres Kompetenzenfächers viel mehr ohnmachtsge­fährdet als die vorgeschichtlichen Menschen. Sie riskieren öfter und an vermehrten Fronten ihr Scheitern durch In­kompetenz zu erfahren. Der Frühmensch hingegen pro­fitiert davon, daß er zumeist fast alle Griffe kann, die er zu seinen persönlichen und sozialen Selbsterhaltung braucht, während er alles, was nicht gekonnt wer­den kann, im Schutz von Ritualen mehr oder weniger routi­niert übersteht. Nehmen Sie an, die Sintflut fällt unter Blitz und Donner vom Himmel auf Ihr Blätterdach, dann kön­nen Sie, wenn sich das Un­wetter überhaupt überstehen läßt, es besser überstehen, wenn Sie ein Lied für den Wettergott rezitieren. Es ist nicht wich­tig, daß Sie selber Wetter machen können, – auch die mo­der­nen Techniken reichen noch nicht ganz bis dorthin -, son­dern daß sie eine Technik kennen, bei schlechtem Wetter in Form zu bleiben; es muß in Ihrer Kompetenz liegen, auch dann etwas zu tun, wenn man ansonsten nichts tun kann. Nur wer weiß, was man tut, wenn nichts zu machen ist, verfügt über hin­reichend effiziente weiterlaufende Lebensspiele, die ihm dabei helfen, nicht in auflösende Panik oder seelen­töten­de Starre zu ver­fal­len. Ge­konntes Nichtkönnen stiftet eine Art Leerlaufver­halten oder einen Parallel­pro­zeß, in dem das Leben auch in Gegenwart des Ohnmächti­g­machenden weiter­gehen kann. Ich verwende für solche Paral­lel­prozesse den reli­­gionswissen­schaftlichen und ethnologischen Ausdruck Ritual. In Ritualen spüren die Menschen der Frühzeit den existentiellen Boden unter den Füßen; Riten scheinen der Stoff zu sein, aus dem die Kohä­renz der Welt gemacht ist. Zwar konnten auch die frühen Menschen nicht ganz dessen gewiß sein, ob die Sonne wirklich deswegen aufgeht, weil sie schon vor ihr wach waren und ihren Aufgang mit einem Rund­tanz förderten; aber sie waren auf diese Weise den Dämonen der Morgendämmerung ge­wachsen und konnten sich rituell in ihren Tag hineinspielen und ihre mythische Identität als Kinder des hellen Ge­stirns und der dunklen Erde bewahren. Die Lücke, durch die Ohnmacht, Panik und Tod ins Leben ein­dringen, wird von archaischen Zeiten an durch Rituale ge­schlossen. In diesem Sinn darf man von der Geburt des Designs aus dem Geist des Rituals spre­chen. Denn wenn auch Design im exakten Sinn des Wortes eine unver­kenn­bar moderne Erscheinung ist, und sich eher an Dingen als an Gesten manifestiert, so ist sein gestisches Sub­strat, das Können im Ungekonnten, das Inform­bleiben in­mitten des Form­zer­setzenden, doch präfiguriert in der uralten Ge­schichte je­ner gestischen und symbolischen Parallelhand­lun­gen, die wir auch heute noch Rituale nennen. Ohne selbst ursächlich auf die Ereignisse in der autonomen Umwelt ein­zuwirken, halten Rituale die Lebensvollzüge ihrer Prak­tikanten zusammen und besitzen in diesem wohl­ver­standenen Sinn die Macht, eine ansonsten nicht zu meisternde Welt in Ordnung zu bringen. Extra ritum nulla salus. Vor allem für die unverfügbaren Schwellen­ereig­nisse des Lebens – insbesondere beim Tod von nahe­stehenden Menschen – haben auch viele moderne Indi­vi­duen noch Reste von Ritualkompetenz be­wahrt; diese erlaubt es ihnen, parallel zum nicht-beherrsch­baren Ereignis die Fort­setzung ihres Lebensspiels durch Minimalschemata des richti­gen Weiter­machens und Darüberhinweg­kommens zu bewerk­stel­li­gen. Ähn­liches läßt sich auch für Geburten und Ge­burts­tage, Hoch­zeiten und Tren­nun­gen, sowie für Jahres­wechsel und Ju­bi­läen sagen. Sie sind von Ritualresten unter­fütterte Schwel­len, deren Über­schrei­tung ein Minimum an formaler Fit­ness er­forderlich macht. Das Ritual, als elemen­tare Spielregel und soziale Formquelle, liefert das hierzu not­wendige ge­sti­sche Re­pertoire.

Von hier aus ist die Rückkehr zu den aktuellen Gestalten des design-getragenen Inkompetenz-Managements nicht allzu schwie­rig. In der Not nimmt auch der Teufel den Farbeimer in die Hand. Als in den 70er Jahren auf dem Flugplatz von Athen eine Maschine der Suisse Air abge­stürzt war, kam es neben den selbstver­ständ­lichen Bergungs­maßnahmen für die über­le­benden und toten Passagiere auch zu der bedenkenswerten An­ordnung seitens der Fluggesellschaft, daß das hoch aufragen­de Heck der zerbrochen am Boden liegenden Maschine mit dem allzu sichtbaren weißen Kreuz auf rotem Grund von einem Flug­hafen­arbeiter auf der Stelle übermalt werden sollte. Man mag das Erste Hilfe für ein verunglücktes Fir­menzeichen nennen. Sie läßt mit einiger Präzision erkennen, was Design im Ex­tremfall will und kann: die Heck­übermalung ist ein Beweis dafür, daß man noch immer etwas tun kann, wenn nichts mehr zu tun ist.

Aber es wäre frivol, die Design-Frage aus­schließ­lich von Inkompetenz­katastrophen der erwähnten Art her zu entwickeln. Kompeten­ter Umgang mit Verhältnissen und Geräten, für die man nicht recht kompetent sein kann, macht ja einen über­großen Teil des modernen Berufslebens und Freizeit­all­tags aus. Alle techni­schen Sy­steme, die auf der Basis von höherer Feinmechanik, von Ver­brennungstechnik, von Nuklear­techno­logie, von Elek­trik und Elek­tro­nik funktio­nieren, sind für die durch­schnittlichen Benutzer völlig undurchsich­tige Größen. Nichts­­destoweniger ist unser Leben all­täglich längst in den Umgang mit solcher Technologie installiert. Die Basis­­maschi­nen der gegenwär­tigen Welt, die Uhren, die Automo­bile, die Computer, der Geräte­park der Unterhaltungs­elek­tronik, die höheren Werk-zeuge und dergleichen – sie sind allesamt für die absolute Mehrheit der Benutzer nur gli­tzern­de Ober­flä­chen, deren Innenwelten unmöglich zu be­treten sind, es sei denn dilettantisch und zer­störerisch. Nach tra­ditioneller Rhetorik würde man hier von Büchern mit sieben Sie­geln spre­chen, in zeitgenössischer Sprache heißen solche undurch­dring­lich komplexen Blöcke in der Umwelt der Benutzer schwar­ze Kästen. Infolge der technologischen Revo­lu­tion ist die Le­benswelt der Individuen vollgestellt mit sol­chen Ge­rät­schaf­ten, die zu zauberanalogen telepathischen Ope­ratio­nen er­mäch­tigen – wie Fernhören, Fernsehen, Fern­sprechen, Fern­steuern, Fernlesen – allesamt Leistungen, die sich auf dem Benutzer abgewandte apparatinnerliche Pro­zesse stützen. Design kommt unwei­ger­lich überall ins Spiel, wo der schwarze Kasten dem Benutzer eine Kontaktseite zuwenden muß, um sich ihm trotz seiner internen Hermetik nützlich zu ma­chen. De­sign schafft den dunklen Rätselkästen ein aufge­schlossenes Äußeres. Diese Benutzeroberflächen sind gleich­sam die Gesichter der Boxen, genauer: das Make-up der Ma­schinen; sie simulieren eine Art von Verwandtschaft zwi­schen Mensch und Kasten und flü­stern dem Benutzer Appetite, Berührungslüste, Handlich­keits­empfin­dun­gen und Initiativen ein. Je unbe­greif­licher und trans­zen­denter das Innenleben des Kastens ist, desto auf­fordernder muß das Kastengesicht dem Kunden ins Natur­gesicht lächeln und ihm signalisieren: du und ich, wir können es miteinan­der; ich drücke in meiner PVC-Physiognomie meine ungeheuchelte dienst­bereite Sympathie für dich aus. Durch Design läßt sich die Über­zeugung stif­ten, daß ein Mann und sein Trockenra­sie­rer Mannschaftskame­raden sind, kaum anders als die Hausfrau und ihr Lavamat. Design schafft bei kom­plexem Gerät jene Fassade aus Zeichen und Berührungspunkten, an welcher der Benutzer ohne spürbare Demütigung durch seine evidente In­kompetenz fürs Innere sein Spiel anschließen lassen kann. Aus der Benutzer­perspektive muß Unwissen Macht werden kön­nen. Ich telefaxe, also bin ich. Das Universum des Produkt­designs dreht sich weitgehend um das sensitive Sujet des Dienstes am Kom­petenz-Bedarf strukturinkompe­tenter Be­nu­tzer. Ein Kunde ist aus solcher Sicht immer ein Idiot, der Souveränität kaufen möchte. Und der Designer liegt – in strategischer Allianz mit den Her­stel­lern und den Experten für das Innere der schwar­zen Kästen – immer auf dem Sprung, um neue Wendungen auf dem Souverä­nitätsmarkt her­vor­zubrin­gen oder nachzuvoll­ziehen. Als Benutzer von un­durch­schauter Techno­logie ist der moderne Kunde ein ins Alltäg­liche abge­sun­kener Scharlatan – ein Illuminist mit Kippschalter und Dimmer, ein Tele­pathie­künstler mit dem Faxgerät, ein kine­tischer Gaukler am Steuer eines Wagens, ein Levi­ta­tions­meister im Linien­flugzeug. Und inso­fern all diese dunklen technischen Objekte ohne den Beitrag von Designern nicht wären, wie sie sind, kann man den Beruf des Designers als den eines Schar­latanen­aus­stat­ters bezeich­nen – er lie­fert Alltagsscharla­tanen wie mir und Ihnen und jeder­mann das Zubehör für ihre fortlau­fenden Souveräni­täts-Simu­lationen. Umgangssprachlich nennt man dieselbe Lei­stung Mit­hilfe zur Lebenserleichterung. Dieser Dienst hat Vor­bilder und Verwandte in einer Sphäre, die dem technischen Element ganz fern, ja ent­­gegengesetzt zu sein scheint – bei den Rhetorik- und Grammatiklehrern der Antike und den Tanz-und Manieren­lehrern aristokratischer Zeiten. Beide lieferten Trainings in sprachlichen und körperlichen Haltungen, die den Indivi­duen auch in bodenlosen Situationen den Absturz in Sprach- und Haltlosigkeit ersparten. Wenn kein Wort mehr passend ist, ist immer noch ein Wort am Platz; wo aller Halt verlo­ren­ging, ist immer noch gute Haltung mög­lich. Design wie­derholt diese Aus­stattung mit Souveränitäts­mitteln im Horizont einer technologischen Zivilisation; es lie­fert das technische Zeug zur Macht für Menschen, die ver­suchen, in der unge­heuren Macht­stei­gerungs­spirale der Gegen­wart nicht nur als ohnmächtige Kompetenz­-Marionetten vor­ge­führt zu werden. Ob dieser Versuch ge­lingen kann, darüber streiten heute die humanistischen und die techni­zistischen Parteien der Kultur­kritik.

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Nachdem von der Geburt des Design aus dem Geist des Rituals die Rede war, muß von einer zweiten spezi­fisch modernen Quelle der De­sign-Zivi­lisation gesprochen werden. Die mo­derne Welt als Experimentalkultur ist in ihrem Betrieb der praktische Vollzug der Überzeugung, daß Dinge nicht Wesen oder Kreaturen sind, sondern Funktionen oder verstofflichte Handlun­gen. Wären Dinge Wesen aus eigenem Recht und Ursprung – gewissermaßen Dinge von Gottes Gnaden -, so wäre der Versuch, Hand an sie zu legen, latent oder manifest bla­sphemisch; jedes Design – sofern Design Neuzeichnung von Dingen meint – wäre dann ein Aufstand gegen die anerschaffe­ne oder naturgeborene Essenz. Sind Dinge jedoch Träger von Funktionen, so sind sie durch kein Ursprungs­siegel ge­schützt und geheiligt und stehen von ihnen selbst her einer ständi­gen Verbesserung und Neuschöpfung offen. In diesem Sinn ist Design als Haltung und Beruf im elementaren Revisionismus der pragmatischen Modernität ver­ankert; Revisionismus aber ist Meliorismus, Neumachen meint Bessermachen. Design ist also die Vollzugsform des Funktionalismus – wer Design be­treibt, bekennt sich als prakti­zie­ren­den Funktionalisten, er ist Täter des Verbs Funk­tionie­ren, Apostel des in alle Welt hinausgesandten Glau­bens an den Vorrang der Funktion vor Struktur und Wesen. Treten wir einen Schritt von sol­chen Selbstver­ständlichkeiten zurück und fragen nach dem Sinn die­ser allzu einleuchtenden Ausdrücke, so gelangen wir auf ein Feld, wo der Zusammenhang zwischen dem Ding und seiner Funktion oder der Funktion und ihrem Ding in einer durchaus zwielichtigen Weise sichtbar wird. Martin Heidegger hat in seiner berüch­tigten dunklen Rede über “das Ding” die hier ge­stellten Fragen am Beispiel eines Kruges erläutert. Die Funktion des Kruges – darüber sind nicht viele Worte zu ver­lieren – zeigt sich in seiner Eignung zu der Aufgabe, in seinem hohlen Innern Wasser oder Wein zu fassen und zum Ausschen­ken zur Verfügung zu stel­len – deswegen vereinigt er in seinem Aussehen not­wen­diger­weise die drei Merkmale Hohl­bauch, Griff und Schnabel. Die Funktion des Dings wäre dem­nach einfachhin dessen Dienst oder Nutzen. Vom diesem Bei­spiel her gedacht sind Dinge allgemein gesprochen nütz­li­ches zu­handenes Zeug. Aber als dienendes Zeug sind Dinge zugleich auch diskret souveräne Geber – Gebe-Wesen sozu­sagen in den Händen von sterblichen Lebewesen. Dies zeigt sich am Krug­beispiel be­sonders klar. Der Krug ist von Amts wegen zum Ausschenken da, sodaß sich an ihm ohne Umschweife verdeut­licht, wie die­ses Ding, indem es dient, zugleich auch schenkt. Man muß zugeben, daß Heidegger zurecht keinen Grund sah, vor der Aussage zu­rück­zuschrecken, das Wesen des Kruges sei das Schenken. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu dem ding-ontologischen Haupt­satz, das Wesen des Dings überhaupt sei das Ge-Schenk. Wir erreichen mit diesem überraschenden Theorem ein doppeltes Ding­verständnis – eines, das den funktionalen Dienst des Dings an den Anfang stellt, und von diesem her auf den Menschen als Herrn und Nutzer kommt, und eines, das vom Geschenk­charakter des Dings ausgeht und den Men­schen als Empfänger von Gaben der Dinge kennzeichnet. Die zweite Auf­fassung ist nach Tenor und Logik natür­lich in einer vor­modernen Welt- und Seinsauslegung zu Hause, weil sie dem Sub­jekt – statt seinen Willen zur Mehr­kompetenz zu be­dienen – seine fällige Dank­barkeit gegenüber den sich schen­kenden Dingen in Er­innerung ruft. Sie markiert die Position des Anti-Designs schlechthin. Wer sie sinnge­treu in die Tat um­setzte, wäre kein souveränitätssu­chen­­der kompetent-inkompe­tenter Benutzer von Zeug zur Macht, sondern ein Meditierer und ein ding­frommer Empfänger von Geschenk im Gewand von Werkzeug, Stoff und Lebensmittel. Cum grano salis entspräche dies einer katho­li­schen Hand­werks- ­und Bauernphi­lo­sophie; für diese beginnt jeder Gebrauch von Werk­zeu­gen oder Appara­ten rechtens immer mit einer Dingandacht, so wie das Essen mit einem Tischgebet.

Auf diese Weise ist noch kein Designer entstanden. Designer mögen alles mögliche von sich halten, sie sind jedenfalls keine Handlanger Gottes und keine Ar­bei­ter im Weinberg des Seins. Ein De­signer kann sich nie nur als Kurator des schon Vor­handenen verstehen. Alles Design entspringt aus einer Anti-Andacht; es beginnt mit der Entschei­dung, die Frage nach der Form und Funktion der Dinge neu zu stellen. Sou­verän ist, wer in Formfragen über den Ausnahme­zustand entscheidet. Und Design ist der perma­nente Ausnahme­zustand in Dingform­ange­legenhei­ten – es erklärt ein Ende der Be­schei­denheit gegen­über über­lieferten Ding­verfassungen und manifestiert den Willen zur Neufassung aller Dinge aus dem Geist eines radikalisierten Fragens nach der Funk­tion und ihrem Herrn und Nutzer. Jedem Funktiona­lismus wohnt ein dingstürme­ri­scher Funke inne. Während man beim Geschenk nicht an den Preis zu denken hat, ist das Designer-Ding von Anfang an für Preisfragen und Revisionen offen: statt das Ding zu nehmen, wie es sich gibt, stellt das Design die Funktion an den Anfang und macht aus dem Ding eine variable Erfüllung der Funk­tion. Design ist möglich, weil und inso­fern der Satz gilt, daß jedes Ding seinen Preis hat.

Man muß die Geschichte vom Aufstieg des Designs zum fast unum­schränkten Machthaber über die Neufassung von Dingen natürlich auch in einer ökonomischen Tonart erzählen. Denn was hier im ontologischen Jargon als Ding bezeichnet wurde, heißt ökonomisch unmißverständlich Ware. Ein Ding, das Wert trägt, ist ein Gut. Wenn ein werttragendes Ding auf den Markt gebracht wird, um dort mit anderen Dingen gleicher Orien­tierung zu kon­kurrieren, so wird die Ware, wenn sie er­folgs­willig und erfolgs­fähig ist, im Wettlauf mit ihres­gleichen zum vergleichs­weise besseren Gut – mit einem Wort, sie wird vom Gut zur Besserung. Dies scheint fürs erste nur ein Wortspiel zu sein – ist aber für den zweiten Blick der gültige Begriff für das dynamisierte Wertobjekt. Das zur Besserung ge­steigerte Gut als erfolg­suchendes werttragendes Ding ist seiner dyna­mi­schen Seinsweise auf dem Markt gemäß von sich her schon eine Sache, die den Vergleich sucht, um ihn zu ihren Gunsten zu bestehen. Man könnte sagen, sie gehorcht dem kate­gori­schen Komparativ: Präsentiere deine Erscheinung auf dem Gütermarkt immer so, daß das Motiv dei­nes Da­seins jeder­zeit als Ausdruck und Anreiz des Stre­bens nach Besserung verstan­den werden könnte! Weil nun gerade Design-Güter per se als Ver­körperungen des Anspruchs auf Vorzüg­lich­­keit gegenüber konkurrierenden Gütern hervorge­bracht wer­den, sind sie sozu­sagen die real existierenden Kompara­tive der Dinge. In der modernisierten Warenwelt gibt es – idealtypisch ge­sprochen – der Tendenz des Marktverlaufs nach keine stati­­schen Güter mehr, sondern nur noch Besse­rungen – keine stabilen Qua­li­täten, sondern nur Überbie­tungs- und Steige­rungs­waren. Die revisionistische Ding-Auf­fassung im Design artikuliert sich genau am Schnitt­punkt zwischen Experiment und Konkurrenz, zwischen Funk­tions­verbesserung und Ver­wertungsverbesserung. Zu diesen beiden Verbesserungen tritt eine dritte hinzu, wenn man berück­sichtigt, daß ein Design-Ding selten, ja nie allein kommt. Jedes einzelne De­sign-Objekt profitiert von Nachbar­schaften zu seinesgleichen – es nimmt von ihnen einen atmosphärischen Mehrwert auf, der von der Familien­ähn­lich­keit mit verwandten optimierten, stilisierten, neugedachten, weitergedach­ten und zugespitzten Produkten, also Besserungen herrührt. Von Bes­se­rungen-Gruppen handelt die kritische Theorie des Sorti­ments. Aber ob im Ensemble oder als Einzelstück aufge­faßt, nach der Verjüngung im Design ist das Ding immer ein kompa­ratives Objekt – es ist der Nachfolger eines abgelösten oder überbotenen Dings, Er­gebnis einer nach vorne offenen Optimierungsge­schichte. Wenn der Designer als homo aeste­ticus und psycholo­gicus, wie gesagt, ein Zulieferer für Sou­veränitäts-Simulationen ist, so ist er als homo oecono­micus der Ausstatter für Güter auf dem Weg zur Besserung; er ist der Mann des unbedingten Kompara­tivs, – Ent­wick­lungs­helfer für auf­streben­de Dinge. Man könnte ihn als Generali­sten für Ding-Revisionen be­zeichnen. In dieser Eigenschaft fungiert er als Zeugmeister für die Machtkämpfe der Eigen­tümer an variablem Kapital, das in Gestalt von Besserungs­waren zirkuliert. Und in dem Maß, wie der aktuelle Weltmarkt tatsächlich Besserung honoriert, wird Design nicht nur zu einem Erfolgs-Faktor unter anderen, sondern mehr noch zum Grundelement und zur Nährlösung für den moderni­sierten, das heißt klüger­gemachten Erfolg überhaupt.

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Nach Ritual und Kapital ist eine dritte Quelle zu nennen, aus der das Design im aktuellen Machtraum Bedeu­tungen ansaugt. Das Stichwort lautet angewandte Kunst. Ich möchte hier keine Exkursion in die Sumpflandschaften von Theo­rien mo­der­ner Kunst beginnen. Auch den marxistischen Klassiker Waren­ästhetik und den libe­ralen Schlager Konsumästhetik will ich hier unberück­sichtigt lassen. Ich spreche also nicht über “die Rolle des Ästheti­schen bei der Scheinlösung von Grund­wider­sprüchen der kapi­talistischen Gesellschaft” – wir sind nicht mehr in den 70er Jahren. Ich setze voraus, daß bekannt ist, wie Designer als Maskenbildner der Waren mitwirken an der Erwirtschaftung eines Aufmachungsmehrwerts; auch daß Scheinbesserungen, Vor­täuschung von Qualitäts­differenzen, Erzeugung der Illusion von Auswahl beim Kunden seit langem problematische Domänen von Design als ange­wand­ter Kunst auf Abwegen darstellen, ist eine Prämisse, die ich hier ohne weiteren Kommentar in Ansatz bringen darf. In einer Identi­tätskultur wird Differenz notwendigerweise zur knappen Ressource.

Was angewandte Kunst an­geht, so ist sie, wie je­der weiß, nicht nur ein Kontakthof für Begeg­nungen zwischen Schön­heiten und Tech­niken, sondern auch ein Inbegriff von Verfahren, den Schein des schönen Lebens zu regenerieren. Insofern besitzt die angewandte Kunst einen privilegier­ten Zugang zu den Traumfabriken, ohne deren Beitrag die komplizierte psychopolitische Maschinerie moderner Massen­gesellschaften nicht in Gang gehalten werden könnte. Moder­ni­tät ist ja, wie sich inzwischen auch bei Ideologiekriti­kern herum­gesprochen hat, nur ein anderer Name für die Verlegenheit, zwischen Abbau und Aufbau von Illusionen eine Balance finden zu müssen. Design als angewandte Kunst ist darum immer auch ein Regu­lator in der subjektiven Ökologie der individuali­sti­schen Zivilisation; es klimati­siert nervö­se Großgesell­schaf­ten und wirkt mit an der Fein­einstellung von Illusions- und Elan-Systemen. Es motiviert und tonisiert die Spieler in den Gewinnspielen der Lei­stungs- und Erleb­nisgesellschaft, indem es die Prämie Souve­ränität samt ihren Simulations­mitteln so breit ausschüttet wie irgend möglich. Alle sollen Zugang zu Gewinner-Gefühlen ha­ben, – so lautet die Regel für in­klusive Spiele. Solange im avancierten Illu­sions-Design demokra­ti­sche Konzepte Regie führen, wird der technologische Fort­schritt sich immer auch als Gewinn­spiel für viele, wenn nicht alle präsentie­ren. So hat die französi­sche SNCF ihre Hochgeschwindig­keits­züge-Politik ins Volk getragen mit dem Slogan: Le progrès ne vaut que s’il est partagé par tous. Auf der Kehr­seite dieses ge­ne­rösen Illu­sionismus wächst jedoch eine harte Nüch­ternheit heran. Deren Zeichen spuken durch alle Medien, und die Trendpresse sendet seit langem nur noch auf dieser Welle. Angewandte Kunst – mit neuer Illusionslosigkeit in exklu­siven Spielen kombiniert – er­gibt die Modernisierung des Ego­ismus, und dieses Ergebnis aus dem neuem massenhaftem self-designing ist es, was einen kalten Zug ins post­moderne Illusionen-Treibhaus des Westens vor dem Jahr 2000 bringt. Design als auf das Ego ange­wandte Kunst erzeugt an ihrem smarten Träger ein hoch­aktuelles Kom­petenz­bündel aus Tempo, Information, Ironie, Geschmack und zweiter Rück­sichtslosigkeit. Die vormalige Avantgarde-Idee, das Leben des einzelnen selbst zum Kunstwerk zu machen, hat nun, mit einer Verzögerung von kaum drei Gene­rationen, die Basis erreicht. Was man life-style nennt, ist der Durchbruch von Design auf die Ebene der Selbststili­sie­rungen und der Biographien. Das Indi­viduum greift jetzt nach der Kompetenz, sich selber als Kompromiß zwischen Kunstwerk und Maschine auszuführen – etwa nach dem Vorbild von Andy Warhol, der längst weltweit als Patriarch des designgestütz­ten Neo-Individualismus re­zipiert wird. Von ihm haben nach­rückende Generationen ge­lernt, daß Souverä­nität ein Effekt aus der Investition von Energie in flache Prozesse ist. Und insofern das In­dividuum im Design-Zeit­alter selbst der Ope­rator von flachen Pro­zessen am eigenen Leib werden will, dür­fen wir uns darauf gefaßt machen, in eine neue psycho­soziale Ära hineinzu­steuern, ja vielleicht sogar auf einen anthropologischen Quantensprung zu. In der Folgezeit muß es, wenn das Trend­bild nicht trügt, zu einem Gestaltwandel in der tradierten menschlichen Imago kommen, bis hin zur Neuprägung von psy­chophysiologischen und neurona­len Prozes­sen. Es hat den An­schein, als sollte ein Typus von homo semioticus den hoch­kul­turellen homo psy­chologicus ablösen; die manifesten Träger dieser Entwicklung sind bereits voll­jährig, unsere Kinder, unsere Mutanten; bei ihnen würde die klassische “tiefe” Trias von Psyche, Erinne­rung, Innen­welt ersetzt durch die neue flache von Operator, Spei­cher, Bild­raum. Die “Seele im technischen Zeitalter” könnte so etwas werden wie ein lebender Cursor in tur­bu­len­ten Er­eig­nisräumen – ein Cursor auf der Suche nach seinem Curriculum, ein Läufer auf der Suche nach einer Bahn, die seine “eigene” wäre.

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Wie immer man über solche Tendenzvermutungen urteilen mag, – auf jeden Fall ist Design in allen seinen drei Stämmen in eine Art von psychopolitischer Titanenschlacht ver­wi­ckelt, in der Hoffnungskräfte und Verzweiflungskräfte wie zwei Weltmächte oder Atmosphäre-Ganzheiten miteinander ringen. Insofern ist mit dem Kollaps des Kommunismus keineswegs ein Ende des­sen erreicht, was man die bipola­re Ära genannt hat. Man kann allenfalls sagen, daß der über­flüssige Titanenkampf, die Ost-West-Bipolarität, verschwunden ist, um Platz zu machen für den notwendigen Titanenkampf, – den mensch­heitsweit schicksal­haften Streit zwischen der Zuver­sicht, samt dem, was ihr Gründe gibt, und der Verzweiflung, samt dem, was sie nährt und zuspitzt. Es ist der Kampf um die Lebens­gründe einer Mensch­­heit, die im Zuge ihrer Moder­nisierung lernen mußte, ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen. In dieser Bipolarität haben alle Arbeiten und Künste der Gegenwart ihren Ort; in der Schlacht der Motive, die Hoff­nung gründen oder in Verzweiflung treiben, kommen die Lebens­antriebe der aktuellen und künftigen Gene­ra­tionen zu sich – oder lösen sich in ihr auf zu nichts. Dieses psy­chodyna­mi­sche Endspiel der Gattungsintelligenz ist von den Medien weithin unbegriffen, obwohl sie allesamt längst wie Kom­bat­tan­ten im Nebel durcheinanderschreien; es ist von den poli­tischen Klassen kaum erfaßt, obwohl sie selbst längst in mehr oder wenigen wirren Manövern auf dem Schlacht­­feld ope­rieren. Kein Institut für strate­gische Stu­dien hat je über den Verlauf des ultimativen psy­cho­politi­schen Dramas ein Wort verloren, geschweige denn eine These über seinen Aus­gang gewagt. Auch über der Intelligenz liegt ein merkwür­diger Bann, der sie daran hindert, ihr Weltzeu­genamt in ge­höriger Weise wahrzunehmen. Offenbar ist es für Menschen unserer Zeit noch immer zu schwer, inmitten einer Titanen­schlacht zugleich Kombattant und Beobachter zu sein. Wer sieht, so scheint die Regel zu lauten, der kämpft nicht, und wer kämpft, der sieht nicht. Und doch wäre ein sehendes Kämpfen und ein kämpferisches Sehen an der Zeit – vor allem deswegen, weil kaum jemand noch weiß oder wissen kann, auf welcher Seite der Schlacht er oder sie eigentlich angeworben wurde. Das ist Rahmen für die heute allenthalben wahrgenom­me­ne Krise der Visionen. Die Sicht als solche ist im ver­worrenen Titanenkampf getrübt. Des einen Grund zur Zuver­sicht ist des anderen Verzweiflung; des einen Ver­zweiflung ist des anderen Grund zur Zuversicht. Auch die letz­te Bi­polarität hat ihre toten Räume und Niemandsländer; zwi­schen den Fronten irren die Doppelagen­ten hin und her, und die Szena­rien des Tiefenweltkriegs ver­bergen sich hinter Wolken von Mehrdeutigkeit. Wo aber Ambivalenz herrscht, ist Design nicht weit. Designer sind auch Maskenbildner für bodenlose Zuversicht und Schöpfer von Simulationsmitteln für trüge­rische Hoffnungen und falsche Auswege. Sie sind die Kern­truppe der Doppelagenten in der Titanomachie, indem sie mit der Zuversicht am Neuen und Zukunftsfähigen arbeiten und mit der Verzweiflung in Selbsterhaltungspanik blind die immer­gleichen Pfade rennen. Sie geben beiden Seiten recht und rüsten beide mit Zeichen und Geräten aus. Als Mitglieder der unentschie­denen Klasse par excellence sind die Designer zugleich Lieferanten von Spielzeug für letzte Menschen und Erfinder von Werkzeug, das sich in Zukunftswerkstätten be­währen soll. Aber die Unentschiedenheit der Designer ist nicht bloß Laune oder private Schwäche, sie spiegelt die mentale Verfassung aller Kompetenzträger im aktuellen Weltaugenblick wieder. Sie zeigt, daß wir zur Zeit nicht wissen, mit welchen Kompe­ten­zen man ausgestattet sein müßte, wollte man der Ver­zweiflung keine weiteren Gründe in den Dingen liefern.

4 Kommentare

  1. […] Ein vollständiges Transkript des Vortrags findet man hier: http://www.designkritik.dk/peter-sloterdijik-das-zeug-zur-macht/ […]

  2. Christoph Hanser,

    desginkritik mal anders (metaebene on): diese Textwüste les’ ich nicht – intellektuelle Kost dieser Länge braucht bitte mehr Raum und line spacing! Sollten eigentlich basics sein und einer Kritik hier nicht bedürfen…(metaebene off)

    1. admin,

      Hallo Christoph – du hast völllig recht! Danke für die Lesemühen…oder kopiere es Dir heraus. Wir suchen dringend jemanden mit Elan, der Lust hat, unsere Website technisch zu betreuen und strukturell weiterzuentwickeln. Der Relaunch müsste dringend in die Hand genommen werden.

  3. Mike,

    „Was er spricht, spricht er gut, und wer kein Deutsch versteht, muß glauben, er habe etwas Gutes gesprochen.“

    Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

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