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Yana Milev: Designsoziologie

Kürzlich erschien von Yana Milev das Buch Designsoziologie. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Politischen Theorie und Soziologie. Es ist eine Ausführung des 3. Buchs der 2013 erschienenen D.A. – A Transdisciplinary Handbook of Design Anthropology.

Ein einleitender Umweg: Die Notwendigkeit verschiedener Standpunkte

Bevor in dieser Rezension auf die umfangreichen Publikationen Yana Milevs eingegangen werden soll, insbesondere die kürzlich erschienene Designsoziologie, möchte ich mit einem kleinen Umweg beginnen. Er führt über eine These Vilém Flussers, der in Designkreisen durch seine geistreichen und scharfzüngigen Essays zum Thema Design bekannt wurde.

Flusser trat zeitlebens für eine Haltung prinzipieller Standpunktlosigkeit ein, die eine unmittelbare Konsequenz seines Wissenschaftsbilds und seiner Welterfahrung war. Er hielt jeden einzelnen Standpunkt, weil es nur ein Standpunkt war, für falsch. Dies führte zu der Methode, die er in seinen Essays erprobte, in welchen er, wie ein Fotograf, die Welt von verschiedenen Standpunkten und Perspektiven aus zu betrachten versuchte. „Ich ändere meinen Standpunkt nicht nur, weil ich mir widersprechen will“ erklärte er, „sondern weil ich überzeugt davon bin, daß jede widerspruchslose Aussage falsch sein muß, weil die Wirklichkeit widerspruchsvoll ist.“

Das Eingeständnis dieser Tatsache, dass es niemals nur eine richtige Perspektive, nur einen Standpunkt allein geben kann, schien ihm die einzige Möglichkeit, den Phänomenen gerecht zu werden. Aus dieser Sicht ist es für die Belange der Designtheorie, -wissenschaft und -forschung von enormem Wert, wenn sich neue Standpunkte und somit auch Perspektiven generieren. Solch einen neuen, der bisherigen Designwissenschaft entgegengestellten Standpunkt, arbeitet Yana Milev seit einigen Jahren aus.

Milevs komplementärer Standpunkt

Milev arbeitet seit Jahren an einem wissenschaftlichen Projekt enormer Größe. Die nun erschienene Designsoziologie ist Teil davon und wird von ihr als „modulares Forschungsprojekt unter den Aspekten der Theoriebildung, der qualitativen Forschung, der Kuratierung und der Publizistik“ 1 bezeichnet. Die Entwicklung dieser neuen wissenschaftlichen Perspektive ist dadurch motiviert, die bisherige, „auf Ökonomie und Management, Technologie und Ingenieurswissenschaft fixierte Designwissenschaft zu entgrenzen und um ihre komplementäre Dimension zu erweitern.“ 2

„Erweitern“ hier wörtlich zu nehmen ist wichtig, denn keinesfalls soll sämtliche vorhergegangene Designwissenschaft für kategorisch falsch oder nichtig erklärt werden, wie man missverstehen könnte, sondern es wird durch ihre Ergänzung und Erweiterung auf die bisherige Eindimensionalität und damit einhergehende, tatsächlich sehr flächige Leerstellen verwiesen.

Milev hält die Notwendigkeit einer „Kulturtechnikforschung des Semiotischen und Soziologischen, des Performativen und Szenischen im Kontext des sozialen Handelns“3 durch die gegenwärtige Situation gesellschaftlich radikalen Wandels für mehr als jemals zuvor erforderlich. Ihr sozioanthropologischer Standpunkt generiert eine neue Sichtweise, in welcher der Mensch als „semiotisches Wesen“, als „Designwesen“4 betrachtet wird, dessen Überleben an Handlungen gebunden ist, die mittels Zeichen Kommunikation ermöglichen. Soziale Systeme sind also zugleich semiotische Systeme, welche durch „Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit ihrer codierten Ideologien und Interessen überleben.“5

Design Anthropology fungiert bei Milev als Oberbegriff für die neue, komplementäre Wissenschaft der Gestaltung. Ihr sind in dem dazu publizierten Werk fünf Themenfelder untergeordnet, denen jeweils ein Buch gewidmet ist. Die nun erschienene Designsoziologie (D.S.) entspricht dem Book 3, welches dort das Cluster V: Design Politics, Cluster VI: Design Covernance, Cluster VII: Design Sociology sowie Cluster VIII: Design Ethnology beinhaltet6. Der erweiterte Designbegriff der D.S. basiert auf der Untersuchung von politischen Theorien sowie der soziologischen Betrachtung von Themen wie Prekarität, Armut, Kreativität, Protest, Hegemonie, Governance und mehr.

Form und Methode der D.S.

Das Buch gliedert sich in 5 Cluster mit jeweiligen Einführungen, die den Themen Governance & Kriminalität, Hegemonie & Antagonismus, Gesellschaft & Prekarität, Überleben & Kreativität, Wohnen & Gemeinschaft gewidmet sind. Für alle, die sich bereits mit der D.A. befassten, wird das Buch in seinem Aufbau sofort vertraut sein sein. Milev hat es bei dem gleichen Layout belassen, das Corporate Design ihrer Grundlegung bleibt also erhalten.

Einer der großen Unterschiede zur konventionellen Fach- und Forschungsliteratur sind die Formate, die hier integriert werden, nämlich Essays, Public Lectures, Curatings und Case Studys. Milev möchte durch sie, wie sie schreibt, „verschiedene Perspektiven, Methoden und Expertisen zum Thema Designsoziologie“ miteinander verknüpfen und so analytische, empirische als auch kuratorische Zugänge erproben. Dabei geht es auch darum, „der künstlerischen und ethnografischen Design- und Feldforschung einen neuen Stellenwert in der Vermittlung von Wissenschaftsthemen“7 zu geben. Sie strebt eine „Verknüpfung aus Wissenschaft und künstlerischer Feld- und Designforschung“8 an, durch den „ein neuer Typus der Wissenschaftsrezeption“9 entstehen soll.

Das Design der UNO, die Band Rammstein und The Dark Side of Chocolate

Die Designsoziologie ist dabei kein welt- und praxisfernes Theoriegeflecht, sie wird nicht nur auf theoretischem Boden errichtet, sondern bedient sich zahlreichen Beispielen aus der Alltagswelt. Ab Seite 82 etwa findet sich ein Essay mit dem Titel Designpolitiken supranationaler Agencies am Beispiel der Uno, dem ein Bildteil folgt, der sämtliche Flaggen/Logos der Hauptorgane der Uno versammelt als auch ihre Funktion knapp zusammenfasst. Im gleichen Cluster findet sich auch ein Kommentar zum Dokumentarfilm The Dark Side of Chocolate, der sich mit der „Camouflagepolitik der Schokoladenindustrie“ befasst und damit ein weiteres empirisches Beispiel für Milevs Thesen zu Governance und Kriminalität im Designkontext liefert. Im Cluster 2 thematisiert sie die Band Rammstein aus semiologischer Perspektive, ebenfalls durch einen Bildteil ergänzt. Weitere Beispiele, die in der D.S. auftauchen, sind unter vielen anderen Lady Gaga, Benetton, die gegenwärtigen Flüchtlingsströme, diverse Protestbewegungen wie Pussy Riot oder Femen, Apple, The Agency, Werbung für Adidas, Nike oder die Katastrophe in Fukushima.

Diese empirischen Beispiele und Fallstudien haben oft einen mehr verweisenden als beweisenden Charakter, es handelt sich bei ihnen nicht um tiefgreifende, umfangreiche Analysen. Das soll jedoch anscheinend auch nicht ihre Funktion innerhalb des Buches sein. Sie sollen wohl eher, wie Milev in ihrem Text zur Band Rammstein formuliert, jeweils „ein Versuch, sich dem Phänomen zu nähern“10 darstellen.

Andersartig, ungewohnt und oft fast ungemütlich

An dieser transdisziplinären Designwissenschaft ist manches in Anbetracht des bisher Etablierten andersartig, ungewohnt und mitunter gar ungemütlich, so dass den Rezipienten der Mut verlassen könnte, sein vertrautes wissenschaftliches Terrain hinter sich zu lassen und sich auf unbekanntes Feld führen zu lassen, um die Dinge von einem neuen Standpunkt aus zu betrachten.

Dabei lässt Milev den Leser nicht im Stich. Es kommt zu keinem Orientierungsverlust, da die Definitionen, Ausführungen, Querverweise und Zusammenfassungen von Begriffen, Intention, Methode etc. zahlreich sind. Mitunter gar so sehr, dass der ungeduldige Leser sich fast wünschen mag, sie träten zugunsten der Prägnanz und Kürze der Werke zurück. Verdenken kann man Milev die unermüdliche Wiederholung und Präzisierung der Grundlagen des komplementären Designbegriffs jedoch nicht. Es scheint tatsächlich manchem schwerzufallen, dem frischen und mutigen denkerischen Gestus Milevs zu folgen, ohne dass Missverständnisse entstehen.

Ein unkonventionelles Kompositionsprinzip

Dieser denkerische Gestus, der bestimmte Themen in Variationen und aus verschiedenen Perspektiven wiederholt und untersucht, ist bei Milev intendiert. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die letzte Seite der Einleitung, die sie dem „Kompositionsprinzip“ ihrer Arbeit widmet. Darin schreibt sie, dass ihr Werk, gleich der Fuge der klassischen Musik, aus Haupt- und Nebenthemen besteht, die „mit unterschiedlichen stilistischen Mitteln wiederholt, eingebettet oder ausgebaut werden.“11 Nach gleichen Prinzipien verfolge das Verfahren der D.S., dessen Hauptthemen hier durchgespielt werden, und sich, wie sie selbst schreibt, „in den verschiedenen Stilistiken der Clusterformate als gleiche oder ähnliche Motive wiederholen, einbetten und abwandeln.“ 12

Es lohnt sich, sich auf diese neue Perspektive einzulassen

Es lohnt sich, sich auf diese neue Perspektive einzulassen. Nicht nur für alle, die sich für den (erweiterten) Designbegriff im Umfeld der Soziologie interessieren, sondern auch für diejenigen, deren Interesse Design im Kontext von Macht, Identität, Arbeit, Massenmedien, Technologien, Protesten, Kriminalität, Krieg, Widerstand usw. gilt. Ungeachtet der Tatsache, ob der eigene Standpunkt dem Milevs entspricht, ihm entgegensetzt ist oder ob man angesichts der bestehenden Perspektivenvielfalt, wie Flusser, prinzipielle Standpunktlosigkeit vorzieht: die Design-Anthropology als auch die ihr untergegliederte Designsoziologie bieten neue Erkenntnisse als auch Ergebnisse, die zu diskutieren wären. Auf jeden Fall erweitern sie auch den Horizont. Nicht nur den des Lesers, sondern der Designwissenschaft insgesamt.

Zuletzt sollte noch hinzugefügt werden, das gerade für diejenigen, deren besonderes Interesse der Designkritik gilt, die Designsoziologie hilfreich sein wird. Es finden sich dort, wie auch schon in der D.A., umfangreiche Ansätze zur wissenschaftlichen Untersuchung von Designkritik.

 

  1. Milev, Yana: D.S. – Designsoziologie. Der erweiterte Designbegriff im Entwurfsfeld der Politischen Theorie und Soziologie.Frankfurt am Main, 2014, S.39
  2. Ebd. S. 19
  3. Ebd. S. 21.
  4. Ebd. S. 21.
  5. Ebd. S. 21.
  6. Auf der Seite 39 der D.S. ist Milev ein kleiner Fehler unterlaufen. Dort sind in der Aufzählung der fünf Bücher das book 3 und das book 4 vertauscht
  7. Ebd, S. 42.
  8. Ebd. S. 42.
  9. Ebd. S. 42.
  10. Ebd. S. 404.
  11. Ebd. S. 44.
  12. Ebd. S. 44.

3 Kommentare

  1. review,

    Ist Kritik auf Designkritik nicht erwünscht oder warum wurde mein Kommentar gelöscht?

    1. designkritik Autorenteam Bauer/Birlenbach/Okraj,

      Hallo, nein, die wurden nicht gelöscht, sind nur in einer momentanen Spam-Welle untergegangen und ich habe die Kommentare jetzt erst gesehen. Sorry dafür.

  2. review,

    Einige Kritikpunkte:

    1. Der Preis: rund 100 Euro! Sowohl für Studenten als auch für Praktizierende Gestalter/innen ist das zu happig. Den Preis für das Ebook verrät der Verlag leider nur auf Anfrage.

    2. Der Umfang: 819 Seiten! Sehr fleissig – aber gab es keine Möglichkeit sich kürzer zu fassen oder die Inhalte auf mehrere Bände zu verteilen?

    3. Die Sprache. Die Zitate im obigen Text lassen auf quälende 819 Seiten mit Schachtelsätzen im Soziologen-Deutsch schließen. Und vermutlich benötigt Max Mütze auch ein Fremdwörterbuch dazu.

    4. Das Cover. Klischeehaft futuristische Typo (d.s. für Designsoziologie oder oder d.b. für Designbegriff?) auf Retrotapete im Grungelook. Das ist konzeptionell nicht nachvollziehbar und ästhetisch wenig ansprechend.

    Fazit: Ob Milev für ein Wissenschafts-Publikum oder für Praktizierende in der Design Branche geschrieben hat, kann ich nicht einschätzen. Gestalter/innen holt man so jedenfalls nicht ab.
    Wenn man denen eine etwas wissenschaftlichere Sicht auf ihre Arbeit nahebringen möchte, muss das deutlich verdaubarer aufgezogen werden.

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