Noch eine Krise kann wirklich niemand gebrauchen. Gerade erfindet sich die Finanzwelt neu. Die Bahn steht vor schweren Zeiten. Und nun soll auch noch das gute historische Erbe angezweifelt werden? Oder ist die Krise letztlich doch der Beweis für das Nichtfunktionieren all unserer kalkulierten Vernunft und technischen Funktionalität? So jedenfalls sieht das Max Borka, Autor, Kurator und Designkritiker aus Belgien, der im Museum MARTa Herford die Ausstellung „Nullpunkt. Nieuwe German Gestaltung“ zusammengestellt hat. Die demonstriert schon im Titel sprachlichen Mischmasch und Eklektizismus als experimentelles Vorbild jenseits der Landesgrenzen. Borka hält die starre Programmatik für ein Markenzeichen und den Nullpunkt des deutschen Designs. Das Erbe von Werkbund und Bauhaus lähme die Weiterentwicklung. Jeder Nullpunkt sei aber auch ein Neuanfang. Das Herkunftsland des modernen Designs gilt ihm als gutes Feld, um die gegenwärtige Krise des Design aufzuzeigen. Da ist der Kurator sich sicher.
Bereits im Foyer beginnt der Diskurs mit einer Film-Dokumentation der Deutschlandreise des Belgiers: Hausbesuche bei Designern, Gespräche zwischen Kaffeetassen und Entwürfen. Die Filme dokumentieren nicht nur die kuratorische Arbeit, sie relativieren auch angenehm die Museumsumgebung. Borka besucht etwa Andreas Brandolini, einen der wichtigsten Vertreter des „Neuen Deutschen Designs“ der 80er Jahre, der heute vergessen in einem französischen Dorf lebt. Hier wird der Anschluss an die letzte große Design-Bewegung in Deutschland hergestellt, der 1987 immerhin mit seinem Deutschen Wohnzimmer auf der documenta 8 vertreten war. In Aufbruch zum Durchbruch (1986), einem Video von Christian Borngräber dekonstruieren dann Designer und Gruppen wie Stiletto, Volker Albus, Kunstflug und Brandolini mit ihren rebellischen, nutzlosen und bunten Entwürfen das „Schöner Wohnen“ – in aufrührerischer Pose vom Sound der Einstürzenden Neubauten unterlegt.
Deutschland aber ist leider selten Punk und besitzt ein Vorkaufsrecht auf genormte Vernunft. Im Foyer begegnet man deshalb auch den Arbeiten, die zeigen, wie der deutsche Rationalismus bis zum Wahnwitz auf die Spitze getrieben wird: Redesigndeutschland beispielsweise dekliniert, wie es mit dem Bauhaus hätte weitergehen können: Vom weißen Miniatur-Fertighaus „Hausbau“ bis hin zur redesignten Sprache „redesigndeutsch“, die mit nur 10 Regeln alle Unklarheiten der Grammatik restlos beseitigt. Die beiden Perspektiven der Ausstellung sind damit vorgezeichnet und werden auf dem Rest des Parcours konsequent ausgeführt. In der einen Sektion wird unter dem Titel „Norm als Null“ der Status Quo mit jungen Designern ausgemessen. Im zweiten Ausstellungsteil, „Null als Norm“, präsentieren in Deutschland lebende, international bekannte Designer Positionen des Designs von morgen – ein Design, das Fragen aufwirft, statt schnelle Antworten zu geben.
Die dicht an dich platzierte Objektpräsentation der Feldstudie „Norm als Null“ könnte dabei heterogener nicht sein. Borka schürft nicht eben tief, um den Stand der Dinge festzustellen. Er hat zusammengetragen, was in Medien und auf Festivals in Deutschland zu sehen ist, eher einen subjektiven Ausschnitt als eine repräsentative Leistungsschau. Die Mixtur, die hier präsentiert wird, stellt Arbeiten von Studenten neben die von arrivierten Profis, Prototypen und Unikate neben fertige Produkte. Dass Borka hier auch zeigen möchte, wie der Design-Nachwuchs in Deutschland sich nur langsam von selbstauferlegten Beschränkungen löst, wird leider nicht deutlich. Wäre das nicht eine weiter ausgreifende Untersuchung wert?
Die Objekte von Tina Röder beispielsweise: Die Stahlrohrliege Visual Anaesthesia. Naked Couch / with hidden details, die mit hautfarbenen Ledergürteln bespannt ist, oder die Untersuchungsreihe Structures / Facades (zusammen mit David Krings), Objekte mit Oberflächen aus lasergeschnittener Graupappe, die Schichtungen und Durchbrüche zeigen, um so auf die auf die Ästhetik von Architekturmodellen zu verweisen. Röders mit Millionen Löchern versehene Monoblock-Stühle sind eine stringente Untersuchung von Objekt-Beziehungen, aber zweifellos Design für die Galerie.
Wenigstens hat Roland Nachtigäller, der neue Leiter des MARTa Herford, es geschafft, seine altbewährten und ebenso verdienten Lieblinge Andree Korpys/Markus Löffler in die Ausstellung einzuschleusen, denen er schon an seiner vormaligen Arbeitsstätte, der Städtischen Galerie Nordhorn mehrere Auftritte gesichert hatte. Die beiden Videokünstler zählen zu den intelligentesten Repräsentanten einer kritischen Erinnerungskunst zwischen Film und Video-Installation. Sie nehmen in der Ausstellung zwar nur eine kleine Rolle ein, deuten aber an, wie eine kritische Reflexion der Nachkriegsmoderne wieder aufgenommen werden könnte. Die Klassiker dieser Ära, darunter Entwürfe von Max Bill und Egon Eiermann, werden zertreten, kaputt gemacht, entwaffnet. Das hat auf den nicht weniger schicken Fotos keinen rebellischen Duktus mehr, sondern gleicht einer pragmatischen Müllabfuhr für formale Machtansprüche. Korpys/Löffler sind schon immer Totalitäts- und Totalitarismus-Kritiker gewesen. So wie sie in einer Arbeit das Hochsicherheitsgefängnis von Stuttgart-Stammheim analysiert haben, dekonstruieren sie hier wortwörtlich Gestaltung. Auch eine solche Kritik braucht Design.
Allerdings will Borka auf etwas anderes hinaus. Seine „Null als Norm“-Sektion will Design ohne Beschränkungen zeigen, ob das nun an Landen, einem Objekt von Konstantin Grcic, exemplifiziert wird, das, Nomen est Omen, wie ein gerade gelandetes Mondfahrzeug aussieht, oder bei El Ultimo Grito, Roberto Feo und Rosario Hurtado: Ein Tisch aus Pappe, Klebeband an der Wand, Aufkleber und Papier werden ergänzt durch neue Glasarbeiten, ein System aus Blasen und Röhren retrofuturistischer Architektur in Vasengröße. Arme, improvisierte Materialien werden da zu aufregenden Einrichtungsgegenständen umgewandelt. Die Gestalter bemächtigen sich ihrer Umgebung, bevor die Umgebung selbst zur Gestaltungsmacht werden kann. Marti Guixé etwa schickt uns in volkstümliche Verhältnisse. Ein grobes Gestell aus Latten markiert den Umriss eines Häuschens, um das lose Baumarkt-Materialien angeordnet sind. Die Bauanleitung: Blindtext. So schickt uns Guixé in die Wunschmaschine der Bedürfnisse. Den Amateur als Designer repräsentiert Jerszy Seymour mit seinem „Salon des Amateurs“. Das Bad im vulkankegeligen Pool aus vor Ort vergossenem schwarzen Kunststoff ist der eigentliche Höhepunkt der Ausstellung. Der Herd, in dem das Plastik dafür gebacken wurde, heizt nun über lange Schläuche das Poolwasser auf 32 Grad. Vom Wasser aus kann man in Ruhe die riesenhafte Mindmap der „Salon des Amateurs“-Gedanken an der Wand betrachten, in dem von Liebe, Leben und den Dingen die Rede ist.
Es wird kein Utopia propagiert, das unterscheidet das Design von Seymour und seinen Zeitgenossen von den Bewegungen der 80er Jahre; und niemand vermag recht zu entscheiden, ob das ein Vor- oder ein Nachteil ist. Was die Ausstellung in ihrer unbedingten Abkehr vom System Design vergisst, ist der Hinweis darauf, dass Designer wie Grcic oder Seymour den Spagat zwischen kommerziellen Entwürfen und poetischen Konzepten sehr wohl gekonnt bewerkstelligen und mit ihrem autonomen Zweitleben auf den festen Platz in hergebrachten Design-Szenarien angewiesen sind.
Irgendwo zwischen den Avantgarde-Designern aus der armen Metropole Berlin und dem düpierten bürgerlichen Publikum liegt Borkas „Nullpunkt“. Die Tatsache zum Beispiel, dass in Berlin Design entsteht, das auch ohne Industrie auskommt, kam in der Möbelindustrie-Region Herford als Kampfansage an. Einen Kampf auf eigene Rechnung und mit eigenen Zielen führt das Design aber nicht. Denn „Nieuwe“ Design lebt anderswo eben nicht allein von seiner semi-künstlerischen Radikalität, sondern von einem experimentierfreudigeren Massenmarkt, gar einer form- und spielfreudigeren öffentlichen Verwaltung, einem Common Sense der Heiterkeit, experimentierfreudigen Auftraggebern. Pionierarbeit leistet das Museum trotzdem. MARTa Herford sieht sich der öffentlichen Vermittlung von Design abseits von Marketing verpflichtet – Diskussionen, die im Kaufhaus nicht geführt werden.